In der jüngeren historischen Forschung zeichnet sich eine erhöhte Aufmerksamkeit für Meere als Räume historischen Geschehens ab, wobei deren Geschichte in ganz unterschiedlicher Weise thematisiert und erzählt wird. Für das frühere Mittelalter bilden dafür nicht zuletzt die oft kurzen und bruchstückhaften Einzelnachrichten zu Seefahrt, Seekrieg oder Seeraub in erzählenden Quellen eine wichtige Quellengrundlage. Diesen verstreuten, in ihrer Summe aber zahlreichen Nachrichten aus unterschiedlichen historiographischen Sprach-, Gattungs- und Regionaltraditionen widmet sich das Forschungsprojekt, das nach den Darstellungsweisen des maritimen Geschehens vor allem für den Zeiraum vom 8. bis 12. Jahrhundert fragt. Lateinische und griechische Texte sollen dabei parallel und teils vergleichend betrachtet werden. Von Interesse sind unter anderem Wahrnehmungshorizonte, Vorstellungen von den Meeresräumen sowie konkrete Wissensbestände, aber auch die Techniken narrativer Konstruktion im Hinblick auf berichtetes und erlebtes maritimes Geschehen.
Im Rahmen der Ludwig und Margarethe Quidde Fellowship steht die Beschäftigung mit Zweigen der früh- und hochmittelalterlichen Historiographie Italiens im Mittelpunkt, denen für das Projekt eine fundamentale Rolle zukommt: einerseits den ältesten chronikalischen Traditionen der "Seerepubliken" Venedig, Pisa und Genua, andererseits der reichhaltigen historiographischen Hinterlassenschaft des normannischen Süditalien unter Berücksichtigung der langobardischen Vorläufer. Während sich für erstere etwa die Frage stellt, ob und wie sich im verschriftlichten historischen Gedächtnis der Städte Aspekte einer maritimen Identität erkennen lassen, lädt die vielfältige Wahrnehmung der normannischen Seemacht insbesondere zur Betrachtung der Verflechtungen zwischen den Perspektiven süd- und norditalienischer, transalpiner und byzantinischer Autoren ein.